der moderne Antisemitismus

Der moderne Antisemitismus

von Thomas Haury

Gemeinhin wird von Antisemitismus dann gesprochen, wenn Juden aufgrund ihrer Religion diskriminiert, verfolgt oder gar ermordet werden. Vor jeder antisemitischen Praxis von Diskriminierung und Verfolgung steht jedoch die antisemitische Ideologie. Und diese ist entscheidend dafür, dass überhaupt erst Juden als Schuldige ausgemacht werden.

Antisemitismus muss daher primär als ein Weltbild begriffen werden, und nicht als eine Praxis. Entstanden ist der Antisemitismus europaweit im Laufe des 19. Jahrhunderts als eine ideologische Reaktion auf die rapide sich durchsetzende kapitalistische Gesellschaft und die damit verknüpften Umbrüche. Der Antisemitismus ist ein Weltbild, das die moderne Gesellschaft in ihren drei zentralen Bereichen ablehnend deutet und erklärt:
Zentral im Antisemitismus ist erstens die Erklärung der modernen kapitalistischen Weltökonomie. Diese wird nicht als ein sich subjektlos vollziehender Prozess gesehen, sondern als ein von bösen Menschen gezielt durchgesetztes Ausbeutungsprojekt. »Die Juden« steckten hinter dem Kapitalismus, sie beherrschten die internationale Wirtschaft, sie seien verantwortlich für alle Krisen und Konkurse. Dabei vollzieht der Antisemitismus noch eine entscheidende Reduktion und Aufspaltung: Die Zirkulationssphäre, also Handel, Banken, Börsen, das raffende Kapital gelten als das Grundübel des Kapitalismus. Dagegen verkörperten die Produktion und das Handwerk, die güterproduzierende Industrie, das schaffende Kapital das Positive. Wertschaffende »deutsche Arbeit« steht gegen »jüdische Ausplünderung« und »jüdischen Parasitismus«.

Nach demselben Muster erklärt der Antisemitismus den zweiten wichtigen Bereich der modernen Gesellschaft: die Politik, den modernen Staat, den demokratischen Widerstreit, unterschiedliche und gegensätzliche Interessen und auch Sozialismus und Bolschewismus. Auch hierfür müssen Schuldige ausgemacht werden. »Die Juden« seien die wahren Herrscher im Hintergrund, die hinter den Kulissen alles steuern und bestimmen. Sie kauften die Politiker oder gleich ganze Regierungen, sie hätten die Presseherrschaft inne und bestimmten die öffentliche Meinung. Durch ihre Finanzmacht, durch Staatskredite steuerten sie die Politik der Staaten und führten die Regierungen an unsichtbaren Fäden wir Marionetten.
Der dritte Bereich der modernen Gesellschaft, für den die Juden verantwortlich gemacht wurden, war jener der Kultur im weitesten Sinne. Für alle Phänomene der modernen Gesellschaft seien die Juden verantwortlich: für die Auflösung traditioneller Autoritäts-, Familien- und Geschlechterbeziehungen, für die radikale Infragestellung von allen althergebrachten Normen, für moderne, abstrakte Kunst, für die Massenkultur, für die Frauenemanzipation, für Verstädterung und Psychoanalyse - an allem waren die Juden schuld. »Die Juden sind unser Unglück« - diese von Treitschke geprägte Parole ist die denkbar prägnanteste Formel des modernen Antisemitismus.

Wichtig hierbei ist: Unter Antisemitismus darf nicht nur eine bloßen Anhäufung von antisemitischen Stereotypen verstanden werden, die beziehungslos nebeneinander stehen. Sondern diese sind innerhalb einer spezifischen Denkstruktur, die die Welt nach einer ganz bestimmten Art und Weise entwirft, aufeinander bezogen.

Das erste grundlegende Strukturmerkmal des antisemitischen Weltbildes ist, dies wurde bereits deutlich, die Personifizierung. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse werden erklärt als das bewusste Werk böser Menschen. Das notwendige Korrelat zu derlei Personifizierung bildet die Verschwörungstheorie. Wenn die Juden hinter allen abgelehnten Phänomenen der Moderne stecken - und das nicht nur in Deutschland sondern weltweit - , dann ist automatisch ein weltweit agierender Feind konstruiert, der alles steuert und nahezu omnipotent sein muss. Sobald man gesellschaftliche Verhältnisse personifizierend erklärt, endet man zwangsläufig in verschwörungstheoretischem Denken.

Das zweite grundlegende Merkmal des antisemitischen Weltbildes ist der Manichäismus. Dieser besteht aus dem Zusammenspiel von drei ideologischen Komponenten: Zum einen wird das gesamte Weltgeschehen erklärt aus dem Antagonismus von zwei Prinzipien: Gut und Böse, Licht und Dunkelheit. Nach diesem Muster wird alles strikt binär kodiert. Auf der einen Seite steht das fremde, gefährliche Element: der Jude. Alles Böse kommt von ihm. Auf der anderen Seite entsteht automatisch als Gegenbild das Gute, das eigene - deutsche, französische, russische etc. - »Volk«. Manichäismus meint weiterhin, dass die Juden zum absolut existentiell bedrohlichen und wesenhaft Bösen konstruiert bzw. dämonisiert werden. Das Opfer hat dann nicht nur alles moralische Recht, sondern geradezu die Pflicht, in Notwehr gegen das Böse vorzugehen. In allen antisemitischen Schriften findet sich das Motiv: »Es ist fünf vor zwölf - entweder wir handeln jetzt, oder der Untergang ist nahe.« Im Manichäismus inbegriffen ist daher drittens auch immer die eschatologische Perspektive der Erlösung: Wenn das Böse aus der Welt getilgt ist, dann ist alles gut, dann sind wir alle Probleme los. Deswegen ist auf der ideologischen Ebene dem Antisemitismus von Anfang an, d. h. schon im Kaiserreich und nicht erst beim Nationalsozialismus, die Vernichtungsperspektive inhärent. Auch das steckt in Treitschkes Parole »Die Juden sind unser Unglück.« Alles wäre gut, wenn es sie nicht gäbe.

Das dritte grundlegende Strukturmerkmal des Antisemitismus ist die Konstruktion des deutschen, französischen, russischen … »Volkes« als bedrohtes Kollektiv in Gegenlage zu den Juden. Diese Wir-Gruppe wird konstruiert als eine an sich harmonische Gemeinschaft, mit einer Wirtschaftsweise ohne Konkurrenz, einer Politik ohne Streit und einer Kultur, die nicht verwirrend und gegensätzlich, sondern die nur noch Ausdruck des »Volkswesens« ist. Dieses Gemeinschaftsdenken, diese Harmonievorstellung ist im Begriff »Volk« von Anfang an inbegriffen. Die Gemeinschaftsvorstellung »Volk - Nation« ist somit ein genuin antimoderner, reaktionärer Gegenbegriff zur modernen Gesellschaft. Entscheidend ist, dass dieses Gegenbild »Volk« durch die moderne Gesellschaft hervorgerufen wird, gleichzeitig aber in der modernen Gesellschaft keine Chance auf Verwirklichung hat. Daher ist jede Konstruktion von »Volk« - das ist ein Ergebnis aller neuerer Nationalismusforschung - auf die Konstruktion eines Feindes, auf ein Feindbild angewiesen. Wichtig in Bezug auf den Antisemitismus ist: Es gibt normale Feinde und es gibt einen idealen Feind. Normale Feinde sind andere Völker: ein prominentes Beispiel hierzulande ist der »Erbfeind« Frankreich, andere wären die Polen oder die Türken. Mit solchen Feinden gibt es Konflikte, man fühlt man sich ihnen überlegen, im Prinzip aber sind es andere Völker, die ihre Existenzberechtigung haben. Die Juden allerdings sind kein derart normaler Feind, sie sind der ideale Feind. Sie sind nicht einfach eine gegnerische Nation wie Frankreich, das man im Krieg besiegen und von dem man Elsass-Lothringen haben will - mehr aber auch nicht. Die Juden aber sind der antagonistische Feind, der Feind der Nation an sich, der Feind, der zur Erlösung der Welt vernichtet werden muss. Das kommt nicht von ungefähr und hat seine innere Logik, personifizieren die Juden doch die moderne Gesellschaft, welche die Entstehung der »nationalen« Wir-Gemeinschaft verhindert. Sie sind deswegen gerade keine prinzipiell gleichartige, nur eben andere »Nation«, sondern das absolute Antiprinzip zur »Nation« selbst. Ihre Vernichtung steht für die Vernichtung der modernen Gesellschaft und verheißt die Herstellung der »nationalen« Gemeinschaft.
Ein weit verbreitetes Fehlurteil ist die Auffassung, ein zentrales Kennzeichen des Antisemitismus sei die Kategorie der »Rasse«. Doch diese floss erst relativ spät, etwa ab 1900 in den Antisemitismus ein, der mit allen seinen Strukturmerkmalen schon lange vorher bestanden hatte. Auch Vernichtungsphantasien finden sich bei allen früheren Antisemiten und nicht erst ab der rassenbiologischen Ausformulierung des Antisemitismus. Auch wurden die Juden schon immer als eine Abstammungsgemeinschaft gedacht, die »Rasse« stellt nur eine extreme Variante dieses Prinzips dar.

Weit verbreitet ist auch die Auffassung, Rassismus sei der allgemeinere Überbegriff und der Antisemitismus eine seiner Unterformen. Doch auch dies ist unzutreffend, handelt es sich doch um zwei völlig unterschiedliche Ideologien, auch wenn beide von Rasse sprechen. Betrachtet man jedoch die Attribute, die der Rassismus seinem Gegenüber zuschreibt, so zeigt sich, dass der Antisemitismus den Juden etwas völlig anderes zuordnet.

Der Rassismus konstruiert den »Anderen« als minderwertig und unzivilisiert. Er ist der Untermensch, symbolisiert rohe Natur, Körperlichkeit, Triebhaftigkeit, ungehemmte Sexualität, Emotionalität, niedrige Intelligenz, Kriminalität, Faulheit etc. »Der Andere« verkörpert die undisziplinierte Natur, den Naturzustand - als Gegenbild entsteht das zivilisierte, triebdisziplinierte, höherwertigere, leistungsbereitere, das sekundärtugendhafte, moderne Individuum. »Dem Juden« aber wird etwas hierzu völlig Gegensätzliches zugeschrieben. Denn er personifiziert die moderne Gesellschaft, ihre Macht, ihre Zwänge. Deswegen bekommt der Jude Attribute zugeschrieben wie: hohe, verschlagene Intelligenz, perverse Sexualität, einen verweichlichten Körper, Krankheit, Heimat- und Bindungslosigkeit, zersetzende Intellektualität, Künstlichkeit, sagenhafte Macht, Individualismus, Materialismus und kalte Berechnung. Der Jude verkörpert die Macht, die Zwänge und die Zumutungen der modernen Gesellschaft. Der »Andere« des Rassismus hingegen verkörpert die rohe Natur, die gebändigt werden muss.

Quelle: http://iskra.blogsport.de/texte/der-moderne-antisemitismus/

 
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